Deutsche Romantik im größten Ballungsraum unseres Landes: Eine unerwartete Inspiration…
Wenn man den Begriff „Deutsche Romantik“ hört, kommen bei vielen Menschen bestimmte Bilder hoch. Man denkt vielleicht an verklärte, neblige Landschaften oder an die wunderbaren Weinanbaugebiete der Mosel. Im künstlerischen Bereich wird dieses Bild von der Deutschen Romantik bestätigt, z.B. beim wahrscheinlich größten Maler dieser Epoche Caspar David Friedrich. Auch bei ihm spielen Landschaften eine zentrale Rolle, gerade die Abgeschiedenheit gehörte gewissermaßen zu seinem Programm. Ähnlich ist dies teilweise auch bei Dichtern wie Josef von Eichendorff, bei dem sich viele Gedichte über den Deutschen Wald finden.
So ist es umso interessanter, dass eine große Deutsch-Romantische Orgel aus dem Jahr 1907 von Duisburg nach Dortmund transferiert wird, um sie in den originalen Zustand zu restaurieren und in der Pfarrkirche St. Clemens in Dortmund-Hombruch nun ein Zentrum der Orgelromatik entstehen soll. Schließlich befinden wir uns hiermit im Rhein-Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, sogar einer der größten Europas, was so ziemlich das exakte Gegenteil der verklärten Landschaften der Romantik zu sein scheint (aber auch nur scheint, denn es finden sich im Dortmunder Süden durchaus reizvolle und inspirierende Orte, wie z.B. den Rombergpark). Doch, wie kam es zum Umzug innerhalb des „Reviers“?
Im Jahr 1907 wurde in der großen Pfarrkirche St. Laurentius Duisburg-Beeck eine Orgel mit 38 Registern von der Firma Klais gebaut. Ja, es handelt sich tatsächlich um die selbe Firma die heute eine der größten und gefragtesten überhaupt ist. Anfang des 20. Jahrhunderts steckte sie jedoch noch in den Kinderschuhen, die Gründung war schließlich erst 1882. So ist es wenig verwunderlich, dass diese Orgel in Duisburg-Beeck eine der größten ist, die bisher von Klais gebaut wurde (nach der Marienkirche Kaiserslautern). Die Disposition mit sehr vielen 8 Füßen, satten fünf 16 Füßen im Pedal, sowie drei 16 Fuß-Registern in den Manualen macht klar: Wir befinden uns hier ganz eindeutig im Deutsch-Spätromantischen Klangkonzept, das maßgeblich von den geradezu überdimensionierten Symphonieorchestern von Richard Wagner oder auch Gustav Mahler beeinflusst ist. Der Klang soll möglichst groß, voll und grundtönig sein, gleichzeitig aber auch sehr viele „farbige“ Einzelstimmen bieten, die wunderbar für Soli geeignet sind. Klais führt damit die Tradition der großen Orgelbauer der Deutschen Romantik Ladegast, Walcker und v.a. von Wilhelm Sauer fort. Passend dazu findet sich eine pneumatische Traktur in der Orgel, die in dieser Zeit sehr üblich war. Viele größere Orgeln aus dieser frühen Phase von Klais sind nicht mehr erhalten, außer Kaiserslautern sind v.a. St. Elisabeth in Bonn und St. Stephanus in Beckum zu nennen. Wie wir wissen wurden nämlich viele dieser großartigen Instrumente im Krieg zerstört oder die Orgelbewegung hat mit ihrer geradezu fanatischen Anti-Romantischen Neobarock-Ideologie diese Orgeln völlig zerstört oder stark verändert. Letzteres trifft auch auf die Klais-Orgel in Duisburg-Beeck zu: Die Firma Klais selber hat im Jahr 1982 ganze 14 Register durch neobarocke ersetzt, sowie die pneumatische Traktur mit einer elektropneumatischen Kegellade ausgetauscht. Vom Krieg war die Orgel allerdings verschont geblieben. Jedoch wartete im Jahr 2020 die nächste große Veränderung auf die Orgel: Wie viele Kirchengebäude heutzutage, musste auch die große Pfarrkirche St. Laurentius in Duisburg-Beeck profaniert und geschlossen werden, sodass die Orgel dort nicht mehr bleiben konnte. So traf es sich genau richtig, dass die Pfarrkirche St. Clemens in Dortmund-Hombruch nach genau so einer schönen, erhaltenswerten Orgel für den eigenen Kirchenraum suchte. Dort stand vorher nämlich eine Stockmann-Orgel aus dem Jahr 1956, die allerdings inzwischen in einem schlechten Zustand war und deswegen für einen günstigen Preis nach Polen verkauft wurde. Als nun die Beecker Klais-Orgel nach einer neuen Heimat suchte, wurde beschlossen Gehäuse, Gebläse und Prospekt auf die Empore in St. Clemens zu transferieren, allerdings (selbst restaurierungsbedürftig) noch nicht spielbar. 2020 wurde der Umzug innerhalb des Reviers also vollzogen und die Orgel steht nun auf der Empore von St. Clemens Dortmund-Hombruch interessanterweise so, als ob sie dort immer gestanden hätte: Der neogotische Originalprospekt aus massiver Eiche mit einigen floralen Jugendstil-Mustern fügt sich ästhetisch wunderbar in die neogotische St. Clemens-Kirche ein. Auch die Rosette wird genau so freigelassen, als ob der Architekt das für diese Empore geplant hätte. Ein Zeichen für göttliche Fügung? Nun musste der nächste Schritt geplant werden, an dem auch meine Wenigkeit (ich habe die Stelle in St. Clemens 2022 angetreten) nun mitarbeiten und teilhaben durfte: Die eigentliche Restaurierung der wunderbaren Orgel. Da diese Orgel (wie bereits erwähnt) ein wichtiges Zeitdokument ihrer eigenen frühen Phase ist, hat Orgelbau Klais sehr gerne diesen Auftrag angenommen und arbeitet nun erneut an der eigenen Orgel. Wie bereits erwähnt, wurde die Orgel im Jahr 1982 klanglich stark verändert und Register rein gestellt die dort im Prinzip nicht reingehören. So wurde die Gelegenheit der Restaurierung genutzt, um zu beschließen, dass man den originalen Zustand von 1907 bzgl. der Register und Klanglichkeit wieder komplett herstellen möchte, die 14 veränderten Register wieder durch die originalen ersetzt werden. Dies geschieht mit zwei „Pfeifengruppen“: Die erste Gruppe sind neu gemachte Rekonstruktionen aus der Werkstatt, die zweite Pfeifengruppe ist nun kurios: Völlig zufällig hat Klais im Lager die romantischen Pfeifen wiedergefunden, die 1982 bei der „neobarockisierung“ der Orgel ausgebaut wurden. Zum Glück gerade noch rechtzeitig, damit sie nun endlich ihren rechtmäßigen Platz in der richtigen Orgel finden können! Auch der Winddruck sollte wieder auf die originalen starken 90mm Wassersäule hochgefahren werden, die Orgel wird also wieder komplett Deutsche Spätromantik und damit eine absolute Seltenheit im Rhein-Ruhrgebiet. Auffällig ist auch der riesige Blasebalg, der vielleicht der größte sein dürfte den Klais jemals gebaut hat! Eine wichtige Veränderung von 1982 wurde jedoch übernommen, nämlich die elektropneumatische Kegellade. Diese bietet nämlich eine hohe Spielpräzision im Gegensatz zur Pneumatik und die elektrische Traktur öffnet gerade mit den heutigen technischen Systemen viel größere Möglichkeiten, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.
Ein neuer Spieltisch im alten Look
Nun gab es noch einen besonders wichtigen Teil des Projekts, der geplant und gebaut werden musste: Der Spieltisch, für den Organisten wahrscheinlich mit der entscheidendste Baustein einer Orgel. Vom Umbau in den 80er-Jahren war zwar einer vorhanden, jedoch war dieser weder im guten Zustand noch war er ästhetisch in irgendeiner Form attraktiv und passend für eine originale romantische Orgel. Deswegen war klar, dass ein neuer gebaut werden musste. Allerdings wussten wir dass, wenn man schon diesen großen Aufwand betreibt, es ein Spieltisch sein sollte der zwar ästhetisch zur Orgel passt, gleichzeitig aber die neuesten technischen und klanglichen Möglichkeiten für den Organisten eröffnen sollte. Die ästhetischen Anforderungen waren schnell festgelegt: Zur Deutsch-Romantischen Orgel wollten wir passenderweise einen Deutsch-Romantischen Spieltisch bauen! Dies beinhaltet v.a. Registerwippen mit Porzellanschildchen, auf
denen die Registernamen von Hand bemalt wurden. Bewusst wurden hierbei nur weiße Porzellanschildchen mit gemalter Goldumrandung verwendet und nicht die pastellfarbenen bunten Registerwippen, die sich häufig an Spieltischen aus dieser Zeit finden. Ausschließlich weiß und gold wirkt im Gesamteindruck deutlich eleganter und erweckt nicht den Eindruck einer „Bonboniere“. Die Holzfarbe wurde an die des Orgelgehäuses angeglichen. Doch nicht nur von der Optik her wurde auf das romantische Vorbild zurückgegriffen, denn selbstverständlich darf auch eine Crescendowalze nicht fehlen, die das besonders stufenlose Crescendo und Decrescendo dieses Orgeltyps erst so wirklich erfahrbar macht.
Doch nun zur neuen Technik. Wenig verwunderlich ist, dass eine elektrische Setzeranlage im Spieltisch verbaut ist, die heute ein gewisser Standard im Bereich Spielhilfen ist und kaum ein Organist heutzutage missen möchte. Doch mit einem einfachen Setzer ist es hier nicht getan, denn im historisierenden Spieltisch ist das innovative System Sinua aus Ratingen verbaut, welches dem Organisten riesige zusätzliche Möglichkeiten eröffnet. Dies gilt insbesondere, wenn die Orgel auf Einzeltonlade steht, doch auch mit der elektro-pneumatischen Kegellade der Orgel in St. Clemens steigert das System Sinua die Flexibilität des Instrument immens. In diesem Fall ist es nämlich so, dass es in allen Werken eine Ladenteilung gibt (Hauptwerk vorne und hinten, Schwellwerk vorne und hinten, sowie Pedal rechts und links), die 1907 ursprünglich nur aus Gründen der Windversorgung gebaut wurde. Kein Mensch hätte sich in dieser Zeit nun ausgedacht, dass man sich über 100 Jahre später diesen Umstand zunutze macht, um z.B. das Schwellwerk auf zwei Manuale zu verteilen! Dies ist jedoch nun möglich. Ursprünglich hatte die Orgel zwei Manuale (Hauptwerk, Schwellwerk, Pedal), der neu gebaute Spieltisch hat jedoch nun drei Manuale. Da das Schwellwerk für ein Manual sehr stark besetzt ist, kann man gut das vordere Schwellwerk beispielsweise auf das 2. Manual legen und das hintere Schwellwerk auf das 3. Manual, was klanglich auch absolut sinnvoll ist. So hat man aus einer sehr stark besetzten zweimanualigen Orgel mit 38 Registern nun eine dreimanualige gemacht. Diese „Umverteilung“ ist auch mit dem Hauptwerk möglich, theoretisch könnte man auch z.B. das linke Pedal auf das 3. Manual legen, wenn man der Auffassung ist, dass dies sinnvoll wäre. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn Sinua hat jetzt schon viel mehr zu bieten. Da die Laden frei zuteilbar sind, kann man zwischen den verschiedenen Laden auch z.B. eine Quintkoppel erstellen, d.h. man teilt zwei Laden auf ein Manual zu und weist die eine Lade dazu an, eine Quinte höher versetzt zu spielen (die Transpositionsfunktion, die bei Sinua standardmäßig vorhanden ist). So kann man sich plötzlich eine klanglich erstaunlich überzeugende Quintaliquote selber mixen, die in der Orgel eigentlich gar nicht vorhanden wäre. Das selbe geht natürlich mit Terzen, Sexten oder auch Septimen. Weitere Funktionen sind Manual- und Pedalteilungen, Sostenuto, Staccato, Pulse, etc…. Besonders interessant wird es, wenn man Einzeltonladen hat, dort kann nämlich jede einzelne Pfeife komplett autonom angesteuert werden, was quasi unendliche Möglichkeiten eröffnet. Dazu benutzt man den „Registereditor“ und kann sich tatsächlich eigene Register neu zusammenstellen und als solche abspeichern. Diese Funktionen werden in St. Clemens in ein paar Jahren interessant, denn die Restauration der Hauptorgel ist bei weitem nicht das Ende der Fahnenstange. Geplant ist vorne an einer freien Wand noch ein Fernwerk mit Registern, die an der Deutsch-Romantischen Hauptorgel fehlen (z.B. Trompette harmonique, Flute harmonique und Vox humana), sowie oben neben der Hauptorgel ein schwellbares Hochdruckwerk (Tuba mirabilis, dazu Hochdruck-Flöte und Streicher), zum krönenden Abschluss noch ein labialer 32 Fuß. Auch ein mobiler Spieltisch im Kirchenschiff soll kommen. Die Odyssee beginnt also erst gerade…
Gleich mehrere Sahnehäubchen…
Wenn man auf die eben genannte freie Wand vorne links in der Kirche schaut, fällt einem bereits auf dass sie gar nicht mehr komplett frei ist! Denn dort hängen schon die Röhrenglocken, welche bereits vom oberen Spieltisch mit dem Registerzug „Campanello“ angespielt werden können. Auf der Suche nach Glocken mit wirklich schönem Klang, aber auch einigermaßen bezahlbarem Preis, wurde am Ende dann tatsächlich auf ein Modell aus den USA zurückgegriffen. Die Übersee-Bestellung hat sich allerdings in jedem Fall gelohnt, einige Kirchenbesucher haben den Klang der Röhrenglocken bereits mit den Turmglocken verwechselt…
Auf der Orgelempore hingegen findet sich ein weiteres absolutes „Sahnehäubchen“: Eine Celesta der Firma Schiedmayer. Nicht umsonst ist der Name dieser Firma wahrscheinlich der bekannteste für dieses Instrument. Der wunderbar weiche und zugleich klar-perlende Klang erzeugt sofort große Freude für jeden der ihn im Kirchenraum wahrnimmt.
Und wenn es schon Röhrenglocken und Celesta gibt, dann darf natürlich einer der wichtigsten Effekte zur Christmette nicht fehlen: Der Zimbelstern. Da das Fernwerk unten noch kommt, sind es in St. Clemens genau genommen zwei verschiedene Zimbelsterne. Der obere Zimbelstern vor der Hauptorgel besteht aus Schalenglocken und ist unter dem Namen „Stella Maris“ zu finden. Er ist, wie gerade erwähnt, wunderbar für die letzte Strophe eines Liedes z.B. in der Christmette einsetzbar um den besonders festlichen Charakter zu unterstreichen. Der andere Zimbelstern hingegen wird mit der Wippe „Stella orientis“ angeschaltet und erzeugt mit Krallenglöckchen einen Klang, der stark an Kölsches karnevalistisches Narrentum erinnert. Dieser Zimbelstern steht provisorisch auch auf der Empore und wird in einigen Jahren nach unten gebracht, wenn das Fernwerk gebaut wird.
Insgesamt ist die Klais-Orgel in der Pfarrkirche St. Clemens Dortmund-Hombruch also eine Symbiose aus authentischer und wunderschöner Klangwelt der Deutschen Romantik gepaart mit den neuesten technischen und klanglichen Möglichkeiten der heutigen Zeit. Ein wahre Orgel-Inspiration, so wie sich unsere in diesem Jahr beginnende große, internationale Konzertreihe nennen darf. Mehr Infos dazu unter: https://christleben.de/orgel-inspiration/
Victor-Antonio Agura