Dennoch hinterlässt die an der Hochschule für Musik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommene Studie einen zwiespältigen Eindruck, gibt es doch eine Reihe von Ungenauigkeiten, sprachlichen Ungeschicklichkeiten und fragwürdigen Feststellungen. Hierfür einige Beispiele. So ist der erste Abschnitt der Einleitung „Musikhistorisches Umfeld“ überschrieben. Wenn dann jedoch auf den Niedergang der Orgelmusik im nachrevolutionären Frankreich eingegangen wird, dann kann hier sicherlich nicht vom „Umfeld“ Mulets die Rede sein. Dass in einem Abriss zur Geschichte der französischen Orgelmusik im 19. Jahrhunderts die grundlegende Studie von Orpha Ochse (Organists and Organ Playing in Nineteenth-Century France and Belgium) keine Erwähnung findet, ist eingravierendes Manko. Dann stellt sich die Frage, ob die Darstellung des Harmonielehre-Unterrichts am Pariser Conservatoire („Harmonischer Kontext“ überschrieben, gemeint ist aber wohl eher ein Überblick zu den unterschiedlichen Lehrwerken) innerhalb der Einleitung tatsächlich unter „Wissenschaftliche Zielsetzung und Methodik“ rubriziert werden kann. In dem insgesamt durchaus gelungenen biographischem Teil heißt es auf S. 52: „[…] da sich immer mehr Organisten vom strengen Legato abwandten. Marcel Dupré, einer der Väter dieser neuen Virtuosität, wurde dementsprechend zur Zielscheibe von Mulets Unbehagen […].“ Abgesehen, dass der Verfasser hier insinuiert, das Abwenden vom strengen Legato sei Teil einer neuen Virtuosität, ist es doch gerade Marcel Dupré, der das Legato-Spiel propagiert.In Kapitel 3 „Mulet als Organologe“ vermisst man den Hinweis, dass Mulets Kritik an den „schädlichen und antireligiösen Tendenzen der modernen Orgel“ (S. 58) bereits Mitte des 19. Jahrhunderts von Félix Danjou antizipiert wurde. Der analytische Teil (Kapitel 4) arbeitet Charakteristika der Orgelwerke Mulets vor allem im Hinblick auf Harmonik und Form heraus. Die These, das „harmonische Material Mulets“ entspräche „bis auf wenige Ausnahmen […] den Lehrinhalten der Harmonielehre François Bazins“ (S. 87), ist m. E. nur wenig überzeugend, da die von den Dozenten des Conservatoire verfassten Harmonielehren ganz auf die Spielpraxis hin ausgerichtet waren, jeden künstlerischen Anspruch bewusst verneinten. Der Verfasser selbst stellt seine These gleich zu Beginn von Kapitel 5 („Ausblick“) infrage, heißt es hier doch: „[…] das harmonische Spektrum und die vorgefundenen musikalischen Formen lassen das Orgelwerk Henri Mulets in einer Art ‹gemischten› Stil im Übergang vom 19. Ins 20. Jahrhundert verorten“ (S. 137). Die im Analyse-Kapitel enthaltenen „Einzelbetrachtungen der Orgelwerke“ sind eine Art catalogueraisonné Beim Kommentar zu „Tu es petra“ verweist der Verfasser auf das Booklet zur Aufnahme der Orgelwerke Mulets durch Friedhelm Flamme. Der Booklet-Text wurde jedoch nicht von Flamme geschrieben, sondern stammt aus der Feder des Verfassers dieser Zeilen. Zudem fehlt hier der Hinweis auf eine kurze Studie von Josef Dahlberg, der schlüssig den Grund für die weibliche Form „petra“ dargelegt hat, die eben nicht wie eine Hommage an Sacré-Cœur „anmutet“, sondern tatsächlich als solche zu verstehen ist. Das Schlusskapitel hinterlässt den Rezensenten ziemlich ratlos. Was heißt z. B. „Satztechnik am Instrument“(S. 139), was ist eine „virtuos gesteigerte Verwendung der Ressourcen der Orgel“ (ebd.)? Auch der Sinn der beiden folgenden Sätze (S. 138) erschließt sich dem Rezensenten nicht: „Darüber hinaus stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Provenienz der Form, angefangen bei den Sonaten Guilmants und den nahezu zeitgleich entstandenen Symphonien Widors [die Provenienz von „Sonate“ und „Symphonie“, die keine Formen, sondern Gattungen darstellen, ist an und für sich klar] und der Fragestellung nach dem Unterschied dieser beiden Gattungen[sic!], dem theoretischen Fundament einer eventuell ausgeprägten Sonatensatzform [auch das theoretische Fundament der Sonatensatzform ist geklärt] und auch der Ursache der quantitativen Übermächtigkeit der dreiteiligen ABA-Form. Auf diesem Fundament, das hauptsächlich im 19. Jahrhundert [wirklich?] seinen Platz hat, kann in folgenden Forschungen aufgebaut werden, wenn es beispielsweise um die explorative Klärung der Frage nach den vorherrschenden Formen ab dem Jahr 1900 [dass es die gibt, ist mehr als zweifelhaft] und der weiteren Entwicklung der musikalischen Form in der französischen Orgelmusik bis heute geht.“ Schlussendlich ist die Behauptung, Messiaens Musik zeige zumeist ein „homophon[es] Satzbild, kaum aufrecht zu halten (man denke nur an das Livre dʼorgue).
Trotz dieser zahlreichen Monita, kann jeder Mensch, der sich für die Orgelmusik Henri Mulets interessiert, das Buch mit Gewinn lesen, solange er nicht die kritische Distanz verliert.
Paul Thissen