Als der Theologe und Kirchenmusiker Wolfgang Bretschneider 2021 starb, erinnerten viele Wegbegleiter an ein Credo seines langjährigen Wirkens: „Der Kirchenmusiker ist der wahre Konzelebrant der Liturgie“. Wer Musik im Gottesdienst macht, ist mehr als nur schmückendes Beiwerk. Gut gemeinte Aussagen am Ende einer Messe wie der Dank „für die künstlerische Gestaltung“ oder ein Applaus „für die musikalische Begleitung“ erfreuen uns Musiker, dürften aber regelmäßig inneren Widerspruch provozieren. Denn Kirchenmusik ist mehr als nur Gestaltung und Begleitung. Sie ist Aussage und Botschaft und Verkündigung. Und sie macht genau das, was eine gute Predigt machen soll: eine Beziehung herstellen zwischen Gott und Mensch, zwischen Gottes Wort in der Bibel und den Menschen in ihrem Alltag.
Aus diesem Anspruch erwachsen aber auch Auftrag und Verpflichtung. Wie gute Prediger (ob Priester, Wortgottesdienstleiterin, Firm- oder Familienkatecheten) sich auf ihre Predigt vorbereiten, müssen das auch wir Kirchenmusiker tun. Von der Liedauswahl über die Art der Begleitung, die Wahl der Register, die Stimmung, die ich durch mein Spiel ausdrücke – all das ist ebenso Predigt wie ein Impuls in der Vesper oder die Homilie der Zelebranten nach dem Evangelium. Will ich frohe Botschaft rüberbringen, muss ich auch frohe Botschaft machen. Um es mit Bretschneider zu sagen: „Mancher Organist macht das Vorspiel zum Gloria mit Lieblich gedackt und Blockflöte. Da können sie einpacken, da ist alles dahin.“
Gleiches – also „alles dahin“ – gilt, wenn jemand trotz großer Register-Auswahl alle Lieder mit derselben Registrierung begleitet: egal ob Eingangslied, Gloria oder Agnus Dei, egal ob mäßig besuchter Gottesdienst oder Festmesse bei vollem Haus, egal ob österliche Freude oder Exequien für Verstorbene: immer dieselbe Begleitung. Das ist dann wirklich nur noch Beiwerk, und das oft nicht einmal schmückend.
Das „Hauptwerk“ in der Liturgie
Dabei ist der Weg vom Beiwerk zum Hauptwerk (die Doppeldeutigkeit in den Ohren der Kirchenmusiker ist gewollt), also zur Predigt im eigentlichen Sinne nicht weit und auch nicht schwer. Man muss vor allem hinhören und hinschauen. So wie ich als Prediger Situationen, Erzählungen oder Erfahrungen aus dem Alltag mit dem Bibeltext in Verbindung bringe, so nehme ich als Kirchenmusiker die Stimmung in der Liturgie auf. Und zwar vorbereitend in Abstimmung mit dem Zelebranten, aber auch spontan, wo es nötig ist. Dazu gehört auch, dass ich die Liedstrophen auswähle, die textlich-inhaltlich passen – und sie auch passend begleite. Dazu zählt weiter, dass ich – wie bei der historisch-kritischen Betrachtung eines Bibeltextes – das jeweilige Lied bzw. die Melodie im Kontext ihrer Entstehung sehe. Musik aus dem 15. Jahrhundert stelle ich anders dar als Romantik oder neues geistliches Lied.
Apropos: In vielen Gemeinden herrscht der Irrglaube, eine moderne Messe für ein junges Publikum vertrage sich nicht mit Orgelbegleitung. Das ist Unsinn! Natürlich sind auch Keyboard und Band Kirchenmusik, aber man kann moderne Kirchenmusik auch wunderbar auf der Orgel spielen – wenn das Instrument das hergibt und man sich mit der Materie beschäftigt. So wie ein guter Prediger sprachlich auf die Gottesdienst-Besucher eingeht, so können das auch Kirchenmusiker tun. Der Dominikaner-Pater Manuel Merten plädiert dafür, nicht „kirchisch“ zu sprechen, sondern Alltagssprache zu nutzen. Das gilt für die Zelebranten genau wie für die „wahren Konzelebranten“: Kirchenmusik als Predigt!
Eine Möglichkeit: Die Orgelpredigt
Dazu möchte ich noch zwei Ideen einbringen – die nicht neu sind, aber vielleicht nicht allen bekannt: Zum einen Musik, die den Inhalt der Predigt aufgreift und vertieft oder als Wiedererkennungswert wiederholt. Ein Schulseelsorger predigte einmal übers Anklopfen und in dem Zusammenhang über das Lied „Knocking on heaven‘s door“ – also folgte nach der Predigt eine kleine Episode von Bob Dylans Klassiker. Quasi die Klammer, die die Predigt um- und abschließt und das Gehörte noch einmal in Erinnerung ruft. Dem Ideenreichtum sind dabei ebenso wie dem musikalischen Talent und der Begeisterung erst einmal keine Grenzen gesetzt. Außer vielleicht der gute Geschmack und die Ernsthaftigkeit des Unterfangens…
Eine zweite Idee: Ein von mir sehr geschätzter Kirchenmusiker spielt in Absprache mit dem Zelebranten alle paar Wochen eine Orgelpredigt. Nach dem Evangelium folgen also keine gesprochenen Gedanken, sondern musikalische. Das mag zunächst überraschen, ist aber eigentlich genau das, was Kirchenmusik machen soll: Gottes Wort Ausdruck verleihen, verarbeiten und deuten. Das ist dann Predigt im wörtlichen und tatsächlichen Sinne; nicht nur Gestaltung oder Begleitung, sondern lebendige Verkündigung. Wolfgang Bretschneider würde sagen „Schwarzbrot für die Seele der Gläubigen.“
Claudius Kroker
Der Autor ist Journalist, Redenschreiber, nebenberuflicher Kirchenmusiker und Laien-Mitglied im Predigerorden der Dominikaner. Er betreibt das Internet-Portal www.besserpredigen.de