Wenn so etwas wie kirchliches Komponieren überhaupt gibt, wie unterscheidet sich dieses dann von vermeintlich weltlichem oder „normalem“ Komponieren? Ist eine Unterscheidung überhaupt sinnvoll und wenn ja, was sollte für kirchliches Komponieren gelten? Und kann Musik überhaupt religiös sein? Fragen, mit denen sich die Teilnehmenden der Fortbildung angeregt auseinandergesetzt haben.
So ist schon die Ausgangsfrage eine knifflige Angelegenheit, wie Michael Schultheis in seinem Eröffungsstatement darlegte: Es gibt eine ganz Reihe von Merkmalen, kirchliche Kompositionen von anderen abgrenzen. Da sind äußere Rahmenbedingungen, die sich in der Verfügbarkeit von Instrumenten mit ihren je spezifischen Möglichkeiten darstellen. Aus Sicht der teilnehmenden Organist:innen sind das natürlich in erster Linie die verschiedensten Orgeltypen, wobei sich die Kirchenmusik natürlich nicht darauf beschränkt, wie Martin Sturm zu recht bemerkte. In Bezug auf die Orgel stellte sich die Frage nach der Realisierbarkeit und Klangfähigkeit tatsächlich zeitgenössischer Klangstrukturen in unterschiedlichen Situationen (konkret: eine Improvisation mit Clustern kann in einer halligen Kirche mit weichem Orgelklang eine ganz andere Überzeugungskraft haben als in kleinem Raum mit einem sehr direkten, einmanualigen Instrument). Gerade dies wäre ein Punkt, an dem zukünftig angesetzt werden sollte: Die Schaffung eines Bewusstseins für die Möglichkeiten, jedem Instrument in einer Kirche Klänge entlocken zu können, die noch etwas Neues zu sagen haben und mehr als die Abarbeitung historischer Spielmodelle sind (deren Studium gleichwohl nach wie vor sinnstiftend sind). Ein anderes Spezifikum, das nicht vergessen werden darf ist die Beteiligung der Gemeinde. Wie kann diese Beteiligung ebenfalls immer wieder ins Leben gerufen werden? Und auch hier, ohne nur zu kopieren, was sich schon abgenutzt hat?
Äußere Rahmenbedingungen sind darüber hinaus die begrenzten Dauern der Musiken, die zum Einsatz kommen können. Nicht umsonst haben sich die großen Kirchenmusikwerke der Vergangenheit vom Liturgieeinsatz entkoppelt, und so führt gerade die Beschränkung auf wenige Minuten, die gewohnheitsmäßig pro Stück toleriert werden, auch zu einer gewissen Banalität dessen, was bisweilen an neuer Orgelliteratur erscheint. Wobei das Wörtchen „gewohnheitsmäßig“ ja schon die nächste Stolperfalle ist:
Neben den äußeren gibt es die inneren Rahmenbedingungen, die sich nicht durch physische Begrenzungen, sondern durch Überzeugungen bilden. Was „erwarten“ die Gottesdienstbesucher:innen zu hören? Wie reagieren sie darauf, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden? Wenn die Musik nicht mehr die vertraute Dekoration ist, die man irgendwie immer schon vorher kennt (die typische Toccata am Schluss, Hauptsache laut und schnell)? Wenn sie nicht in das Vierminutenkorsett passt, das man ihr an den üblichen Stellen im Gottesdienst zugestehen mag? Wie hemmt diese Erwartungshaltung und die mögliche Reaktion auf die Verweigerung sogar den Organisten, der neue und Neue Musik macht?
Innere Rahmenbedingungen sind ebenfalls die Vielzahl an liturgischen, theologischen, im weitesten Sinne spirituellen Bezügen, die die Beteiligten des Gottesdiensten in unterschiedlicher Form von der Musik wünschen/erwarten/verlangen. Leistet eine wie auch immer geartete kirchliche Komposition hier etwas anderes als jede andere Komposition? Und wie kann eine Musik heute geartet sein, die die Inhalte, die Sperrigkeiten, die Unvorstellbarkeiten, die Unzumutbarkeiten, die Provokationen der biblischen Botschaften ernstnimmt? Einfache Antworten kann es darauf vielleicht gar nicht mehr geben, zumindest nicht, wenn die dann kirchliche Musik nicht zu belanglosem Gedudel werden will (Der Komponist Helmut Lachenmann nennt das „das Glück des […] dessen, der sich die Musik als warme Bettdecke über den überlasteten Kopf zieht“). [Burkhard Schäfer: Bergwanderung versus Badewannenglück. Helmut Lachenmann antwortet auf drei Fragen zur Neuen Musik. nmz 6/2011] Dominik Susteck wies deutlich auf den Anspruch hin, den kirchliche Komposition haben sollte, nämlich das kompositorische Material in neue Räume zu transzendieren.
Es geht eben nicht um die äußeren Rahmenbedingungen. Die Unsicherheit der Kirche, was sie noch tun darf, um die sich verkleinernde Schar der Überzeugten nicht zu verprellen, darf also nicht zum Einigeln in den kleinsten gemeinsamen Nenner führen – denn dann wird dieser irgendwann so klein werden, dass nichts mehr übrig bleibt.
Und so muss neu zu schaffende kirchliche Komposition immer die Gratwanderung zwischen Autonomie und Gebrauchsmusik bewältigen. Wirklich autonom sei Musik ohnehin nie, so Michael Schultheis. Eine Komposition, die sich selber ernst nimmt, müsse den „Gebrauch“ in der Liturgie aber nicht fürchten, im Gegenteil, gerade das Unerwartete öffne den Raum, tatsächlich hinzuhören und sich auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Reine Gebrauchsmusik dagegen, die sich nur am zu erreichenden „Ziel“ orientiert („irgendwas im zweiten Modus von Messiaen zur Kommunion, hauptsache leise“, „irgendwas lautes und schnelles zum Auszug“) wird leicht fade, ist letztlich nur Ersatzhandlung und macht sich überflüssig.
Dabei bleibt positiv festzuhalten, dass Komponieren für die Kirche nicht als einschränkend durch die genannten Aspekte ist, sondern auch ermöglichend! Wo sonst haben Komponisten eine so zugängliche Möglichkeit, Musik ohne großen Aufwand aufzuführen. Wenn dann noch eine spirituelle Ebene hinzukommt, ist dies weniger eine Einengung als vielmehr die Chance einer neuen Erfahrung, die vielleicht nicht einmal eingeplant war.
Kirchliches Komponieren – das könnte festgehalten werden – ist also etwas, das sich weniger in der Art und Weise der verwendeten Noten manifestiert (es gibt ja keine katholischen Tonarten) als in der Praxis einer Kommunikation zwischen Sender (Komponist/Organist) und Empfänger (Gemeinde).
Als Forderungen an die Zukunft formulierte Dominik Susteck z.B. die stärkere Berücksichtigung von tatsächlichen Komponisten der freien Szene, die durch ihre Ausbildung zumindest gegenwärtig noch ganz andere Qualifikationen mitbringen als reine Kirchenmusiker. Viele Kompositionsstudiengänge berücksichtigen auch intermediale Ästhetiken und elektronische Medien – Impulse, die im Kontext moderner Kirchenmusiker noch viel unbearbeitetes Terrain sind, so die Erfahrungen von Franz Danksagmüller. Zugleich ist die Ausbildung der Kirchenmusiker in der Verantwortung, neue Ideen und Entwicklungen zu berücksichtigen. So ist sowohl in Weimar bei Martin Sturm, als auch bei Franz Danksagmüller in Lübeck das Schöpferische integraler Bestandteil im Kirchenmusikstudium.
Konkretes Komponieren als Reaktion auf die vielen Überlegungen konnte ein solcher Nachmittag natürlich nicht leisten, im Fokus lag, sich grundsätzlich der Herausforderungen bewusst zu werden. Im Gespräch wurde auch der Wunsch geäußert nach wirklich zeitgenössischer Literatur, die auch für C-Schüler:innen und kleinere Instrumente zu erarbeiten ist, und zwar jenseits der üblichen angelsächischen Literatur einer Neoromantik.
Ein Anstoß dazu, sich vertiefend mit neuem Komponieren für die Kirche zu beschäftigen, soll daher die Seminarreihe Kirchliches Komponieren sein, die Dominik Susteck für das Erzbistum Paderborn ab Sommer anbieten wird.