Die aktuelle Kirchenmusik ist eine Musik, die der Verzweckung dient. In ihr ist kein Freiraum für Neues. Denn die äußere Funktion zerrt an der innermusikalischen Aussage. Sie bestimmt den musikalischen Gehalt. Es wäre zu fragen, wie eine Musik sein müsste, die spirituelle Berührung ermöglicht und nicht behindert.
- Was ist Kreativität und was ist Imitation? Eine Annäherung
Wenn wir von Kreativität sprechen, sollten wir auch vom Niveau dieser Kreativität sprechen. Unser ganzes Leben besteht schließlich erstmal aus Imitation. Daran ist nichts Schlechtes, sei es das gemalte Kinderbild oder das improvisierte Orgelvorspiel. Wir orientieren uns an dem, was wir selbst hören, was wir selbst kennen.
Was aber, wenn eine Neuschöpfung ausschließlich ein Abklatsch des Alten ist, eine Variante dessen, was schon vorhanden ist? Erst in einem zweiten Schritt kommt die Auseinandersetzung, die »echte« Kreativität hinzu. Nämlich dann, wenn wir eine künstlerische Perspektive einnehmen, eine bestimmte Frage- oder kompositorische Aufgabenstellung. Um diese Rolle zu erfüllen, ist schöpferische Freiheit gefragt. Erst wenn schöpferische Freiheit vorhanden ist, lässt sich wirklich künstlerisch handeln.
Musik im Raum der Kirche ist besonders davon bedroht, dass Akteure, die sie entwickeln, mit Forderungen konfrontiert werden, die sie in ihrer Freiheit einschränken. So heißt es schnell: »Spiel laut, spiel leise, nicht zu dissonant. Es muss stimmungsvoll sein! Bloß nicht zu schräg! Es muss aber zur Dramaturgie der Messe passen.«
Es wundert also nicht, dass Teile der Kirchenmusik entweder zum strengen Historismus neigen. Oder sie flüchten sich in reine Stimmungsmusik. Die Musik wird dann opportunistisch, sie wird zum Beiwerk, sie will »einfach schön« sein. Dann bleibt der zweite Schritt der Kreativität aus, nämlich der Frage nach dem, was wir tun und warum wir es tun. Unser Handeln wird dann von der Angst bestimmt, das Richtige zu tun. Die Musik wird kraftlos.
- Mut und Dreistigkeit – Ligeti und Kagel
Wenn wir dagegen die Orgelmusik der 1960er Jahre betrachten, insbesondere die von György Ligeti und Mauricio Kagel, so fällt auf, dass diese Musik mit einem ungeheuren Mut komponiert wurde. Volumina, bei dem sich der Organist mit seinen querliegenden Armen über die gesamte Tastatur legt, Improvisation ajoutée, bei dem Organisten und Registranten Singen, Pfeifen, Klatschen und Schreien und damit schockierende Ausdrucksmittel verwenden, die niemals zuvor in der Orgelmusik auftraten.
Diese schockierenden Mittel wirken auch 60 Jahre nach ihrer Erfindung frisch. Man könnte sagen, Ligeti und Kagel scheinen aktuelle Komponisten teilweise in die Tasche zu stecken, so individuell, mutig und ausdrucksstark sind ihre Stücke.
Mut allein macht noch keine Musik. Das, was aber hier so überzeugend erscheint, ist eine kompromisslose Neubehandlung des kompositorischen Materials. Eine radikale Neuorientierung dessen, was landläufig als Musik zu bezeichnen ist: Unter der Frage, was ist eigentlich Musik? Wie können wir das spezifizieren?
- Zum Begriff »Neue Musik« und zum »objektiven Material«
Der Begriff »Neue Musik« wurde von Paul Bekker 1919 eingeführt und vielfältig aufgegriffen. Wie lässt sich die angesprochene Neue Musik spezifizieren? Zu beachten ist die Entwicklung von Thema und Motiv zum neutralen »Material«. Es verändert sich die Perspektive des Komponierens von sing- und hörbaren Elementen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zur Zwölftonreihe. Die neue Perspektive liegt im Versuch einer sog. »Objektivierung« des Materials, die Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie als »Intentionslosigkeit« bezeichnet. Das bedeutet, dass Töne und Klänge nicht vorgefertigt sind, nicht von einer Kadenz gesteuert werden, sondern sich frei zueinander verhalten.
Insofern wird in der Neuen Musik der ersten Hälfte des 20. Jh., der Zweiten Wiener Schule, das musikalische Material als objektiver Gegenstand zu betrachten versucht. Mit Olivier Messiaens Klavieretüde Mode de valeurs erweitern sich die »objektiven« Ordnungsprinzipien 1947 auf Tondauer, Lautstärke und Klangfarbe und entwickeln sich zur seriellen Musik weiter. Es folgen Geräuschmusik, Elektronik sowie weitere Neuerungen.
Die Nachfolgegeneration jüngerer Komponisten beginnt eine dialektische Entwicklung. Heinz-Klaus Metzger formuliert naheliegend, dass das Neue immer auf dem Alten beruht. Neue Musik sei, wenn dem Alten »etwas Neues« hinzugefügt wird. Er versteht das Neue deshalb nicht als absolut, sondern als dialektisch. So komme ich an dieser Stelle zum Anfang, Imitation und als zweiten Schritt die »echte« Kreativität. Und eine Voraussetzung für diese Kreativität ist die Offenheit und Freiheit der von Adorno angesprochenen »Intentionslosigkeit«. Das musikalische Material ist also nicht vorgefertigt, sondern wird im jeweiligen kreativen Prozess gestaltet.
- Beispiele entwickelten Materials
An dieser Stelle möchte ich als Analogie das 2007 eingesetzte Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom hinzuziehen. Betrachten wir es, kommen eben jene Aspekte des Materials zur Geltung, die anhand der Musik skizziert wurden: »Offenheit, Ausdruck ohne bildliche Darstellung, Inspiration und Neuartigkeit, funktionelle Loslösung von Form und Farbe.«
Dies sind alles Merkmale der genannten »Intentionslosigkeit«. Indem uns das Fenster nämlich keine Richtung der Interpretation vorgibt, wie es bei einer bildlichen Darstellung von einem leidenden Christus oder einer Szene aus dem Evangelium der Fall wäre, überlässt es dem Rezipienten einen vollkommen eigenen Blick. Dies kann eine Tür bilden zu einer mystischen Betrachtungsweise oder Erfahrung. Ich nenne dies, wie im Titel meines Vortrags, Musik als offene Frage.
Und dies ist genau das Gegenteil der alltäglichen Verzweckung: Überall Schilder, Geschwindigkeitsbegrenzung, Abbiegen, Parken verboten, mache dies, mache das, Gegenstände, Unterhaltung.
Aber natürlich auch in der Musik, der klagende Choral, das freudige Gloria, überall wird der Rezipient in eine vorgefertigte Haltung gedrückt, überall wird ihm eine Interpretation quasi vorgegeben.
Wie schön ist aber das genaue Gegenteil, ein zweckfreier innerer Raum, Musik, die eben nicht ihre Antwort, was sie sein will, schon gleich mitliefert. Oder auch ein äußerer Raum, ein Kirchenraum in Stille, der eben nicht dem alltäglichen Leben untergeordnet wird, sondern der ein Andersraum ist, ein nicht-verzweckter Raum.
Ich komme zur Musik. Auch bei Ligetis Volumina findet sich ein »strukturelles kompositorisches Denken, das das motivisch-thematisch ablöst, um dadurch eine neue Formvorstellung zu verwirklichen. In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen und Gestalten, sondern nur den unbevölkerten, imaginären musikalischen Raum…«, so Ligeti.
Die aufgesplittete Partitur beginnt mit einem Vollcluster, der sich über den gesamten Ambitus erstreckt. Im weiteren Verlauf werden die Cluster inneren Bewegungen unterworfen, so dass ein Gewebe entsteht. Ligeti verwendet den Begriff der Mikropolyphonie. Harald Kaufmann spricht von einer »Klangtextur […], die das Phänomen des akustischen Stehens demonstriert«.
John Cage arbeitete auf Wunsch von Gerd Zacher sein Klavierstück Aslsp (1985) (»as slow as possible«) für die Orgel um, unter dem Titel Organ2/Aslsp (1987). Die Uraufführung spielte Zacher am 21. November 1987 in Metz. Die vier Seiten in komplexer und mehrschichtiger space notation werden in der Aufführung gedehnt. Es entsteht eine zweidimensionale Klanglandschaft.
Ingo Dorfmüller schreibt dazu: »Die Partitur verhält sich zum Klang wie die Landkarte zur Landschaft (‚just as maps give proportional distances‘) – so beschreibt es Cage im Notentext: Der Klang ist also vorgestellt als etwas a priori Daseiendes, das von der Partitur nicht determiniert, sondern lediglich beschrieben wird.«
- Musik als Gegenstand, der sich selbst nicht versteht
Alle diese Ideen führen uns letztlich zur Frage nach dem, was Kreativität ist, was sie im Kirchenraum ist. Die Frage bleibt letztlich unbeantwortet oder wird jeweils durch das jeweilige Werk berührt. Entscheidend aber ist die Offenheit des Materials, die zu einer Art offenen Frage führt. Und die Art, wie das individuell beantwortet wird, nämlich durch Kunst oder durch künstlerisches Handeln.
Die Musikwissenschaftlerin Jennie Gottschalk formuliert in »Experimental Music since 1970« (New York, 2016) fünf Kriterien, um experimentelle Musik einzugrenzen und zu definieren. Folgende Punkte erwähnt Gottschalk: »Unbestimmtheit, Veränderung, Erfahrung, Nicht-Subjektivität und Forschung.«
»Unbestimmtheit: Das Stück ist offenkundig unbestimmt, da nur unbeabsichtigte Geräusche zu hören sind.« Das Moment der jeweiligen konkreten Aufführung und deren nicht bis ins letzte Detail vorgefertigte Musik spielt eine Rolle.
»Veränderung: Die Umkehrung des Aufführungserlebnisses, bei der der gesamte Raum des Konzertsaals und nicht nur die Bühne oder der Darsteller im Mittelpunkt stehen, ist realisierbar.« Dies wäre z.B. bei Cages Aslsp der Fall, die Aufführungssituation als solche wird zur offenen Einladung verändert, es gibt nicht mehr bloß das Publikum und die Interpreten.
»Erfahrung: Der Fokus liegt auf der Relativität, in diesem kollektiven Raum zu sein und was sich am Ort und zur Zeit der Aufführung und in den Köpfen der Teilnehmer abspielt. In Ermangelung einer solchen Richtung werden die eigenen Gedanken und Wahrnehmungen primär.« Die Musik wird intentionslos in dem Sinne, dass sie dem Rezipienten keine kollektive Stimmung aufzwingen muss, sondern die Freiheit ihrer Deutung zulässt. Vielleicht wird gerade dadurch ein innerer Transformationsprozess angeregt.
»Nicht-Subjektivität« Der Darsteller oder das Publikum wird nicht angewiesen, wie sie sich diesem Ereignis (an)nähern sollen.
»Forschung« Musik wird zum Feld des Nicht-Wissens. Sie wird zur Erfahrung, die in jeder Aufführung anders beantwortet werden kann.
Auf diese Weise entzweckt sich die Musik. Wir begegnen einer mystischen Dimension, die eben nicht Antworten liefert, sondern eine offene Frage formuliert. Adorno drückt es so aus: »Die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute ist: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.« (aus: Quasi una fantasia, 1963).